HERRSCHAFT UND GEWALT

 

Der Wiener Arzt und Psychologe Sigmund Freud sah den Geschlechtstrieb (Libido) als wichtigsten Antrieb aller Lebewesen an. Seine gewaltsame Unterdrückung durch Gesellschaft und Erziehung führt beim Menschen zu neurotischen Störungen bis hin zur Destruktivität und Zerstörungslust, hatte er erkannt. Als er seine These Anfang des 20. Jahrhunderts zur Disposition stellte, reagierte die Öffentlichkeit, besonders die Wiener Ärzteschaft, mit Entsetzen und Empörung darauf. Das Thema Sexualität war in der Gesellschaft noch streng tabu.

 

Unter dem öffentlichen Druck distanzierte sich Freud wieder von dieser These und nahm seine Forschungsergebnisse zurück. Später führte er anstelle der Libido-Unterdrückung einen angeborenen „Todestrieb“ als Grund für destruktive psychische Störungen ein. Damit verschleierte er den gesellschaftlichen Hintergrund von Destruktivität wieder, und aus einer ursprünglich umwälzenden gesellschaftskritischen und kulturrevolutionären Erkenntnis wurde eine an die gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen angepasste Sichtweise.

 

Destruktivität durch unterdrückte Sexualität

 

Als die menschliche Destruktivität Mitte des 20. Jahrhunderts immer erschreckender wurde, griff Freuds Schüler Wilhelm Reich die ursprüngliche These wieder auf und führte die Zerstörungswut erneut auf eine grundlegende Störung der Sexualität zurück. Reich erweiterte Freuds Libido-Begriff zu einer „Lebensenergie“, die den ganzen Kosmos durchströmt, auch das Zellplasma der Organismen. Er nahm für sich in Anspruch, einen liebevollen Kern im Menschen entdeckt zu haben und propagierte eine freie Entfaltung der Sexualität, um diesen Ansatz weiter zu entwickeln.

 

Reich ging der Frage nach, ob es jemals friedliche Gesellschaften gegeben habe, die eine freie Sexualität ermöglichten, statt sie in Destruktivität umzulenken. Er untersuchte die historischen Wurzeln von Gewalt, Patriarchat und Sexualunterdrückung und sah alle drei Komponenten in einem untrennbaren Zusammenhang wirken. Sein Fazit: Die Wurzel aller globalen Zerstörungsprozesse liegt in einer „chronischen Erstarrung alles Lebendigen“, die aufgelöst werden muss, um Mensch und Natur zu heilen.

 

Es geht ihm um eine Befreiung dessen, was durch starre Strukturen an seinem natürlichen Fließen gehindert und in destruktive Bahnen umgelenkt wird, kurz: um die Befreiung der Lebensenergie aus ihren Blockierungen. Das Geheimnis ganzheitlicher Heilungen liegt im Loslassen, erklärt Reich, doch sei in unserer Jahrtausende alten Zivilisation kein Platz für das spontane Fließen von Lebensenergie. In früheren Kulturen dagegen war das Wissen um die Wirkungsweise einer Lebensenergie, die uns und die Natur durchströmt, über den ganzen Erdball verbreitet, und die Menschen haben im Einklang mit dieser Funktion gelebt.

 

Dieses Wissen ist nicht einfach verloren gegangen, es wurde vielmehr mit unglaublicher Brutalität durch einige Jahrtausende hindurch ausgerottet, bis es fast völlig in Vergessenheit geriet und beinahe jede Spur davon verwischt war. Das beste Beispiel für den Vernichtungsfeldzug gegen das Wissen um lebensenergetische Zusammenhänge seien die Hexenverbrennungen, die über Jahrhunderte in Europa vollzogen wurden, und die Zerstörung von Naturreligionen durch Ausrottung oder Missionierung von Naturvölkern im Zuge des Kolonialismus.

 

Menschliche Emotionen sind für Reich die subjektiven Wahrnehmungen dieser kosmischen Energie, die uns in unserem tiefsten Inneren bewegt. Wenn die Menschen jedoch unter dem Druck von Erziehung und Moral lernen, sich gegenüber lust- und liebevollen Gefühlen zu blockieren, entwickeln sie eine emotionale und körperliche Panzerung. Sie werden konditioniert, ihre innere lebendige Energiequelle niederzuringen und sich selbst zu beherrschen. So wird die durch äußeren Druck entstandene Herrschaftsstruktur verinnerlicht.

 

Diese verinnerlichte Gewalt bindet ständig einen Teil der Lebensenergie, die dadurch ins Gegenteil verkehrt wird: Statt lebendiger Entfaltung zerstören die erstarrten Strukturen alles Lebendige, stauen die Energie auf und lenken sie um in Destruktion. An die Stelle der offenen Gewalt ist somit die strukturelle Gewalt getreten, deren Mechanismen schwer zu durchschauen sind. Ist die innere Gewalt erst einmal in Form eines Körperpanzers verfestigt, schreckt der Mensch vor spontanen und lustvollen Äußerungen des Lebendigen zurück und versucht unbewusst, sich vor ihnen zu schützen, indem er diese „Gefahrenquelle“ vermeidet.

 

Wer die eigene Lebendigkeit und Liebesfähigkeit unter schmerzlichen Erfahrungen niedergerungen und seine innere Energiequelle verschüttet hat, kann auch Lebendiges, Liebevolles und Spontanes um sich herum nicht ertragen. Das bringt sein Energiesystem in Erregung, aber die Erregung ist in der Panzerung gefangen. Das Ergebnis sind Wut und Hass. Gesellschaften mit chronisch gepanzerten Charakterstrukturen haben immer wieder mit abgrundtiefem Hass auf alle unverzerrten Äußerungen des Lebendigen reagiert.

 

So ist die Geschichte der großen patriarchalen und sexualfeindlichen Religionen eine Geschichte der massenhaften Zerstörung von Liebesfähigkeit und Lebensfreude. An die Stelle einer tief empfundenen spirituellen Verbundenheit mit der Natur und eines liebevollen Umgangs mit ihren Geschöpfen ist die Gewalt getreten: Gewalt gegen sich selbst, gegen andere Menschen, gegen Tiere und Pflanzen sowie gegen die Erde, die in früheren Kulturen als lebendiger Organismus, sogar als „Mutter“ empfunden wurde (Reich).

 

Die heutige globale Eskalation von Gewalt und die Umweltzerstörung sind für ihn nur zwei Aspekte desselben Prozesses: Die patriarchal geprägte, emotional gepanzerte Menschheit hat den Kontakt zur gemeinsamen Wurzel alles Lebendigen, der kosmischen Lebensenergie, verloren. Anstatt das Göttliche in sich selbst zu entdecken, suchen die Menschen ihren Gott im Jenseits, vermittelt durch Priester. Die Unterdrückung als Antrieb und Bewegungsprinzip bringt die Herrschaft des Erstarrten über das Lebendige hervor. Der gepanzerte Mensch trägt seine Erstarrung in seine sozialen Beziehungen, sein Verhältnis zur Natur, in sein Denken und Fühlen sowie in Wissenschaft und Technologie.

 

Auch technische Konstruktionen sieht Reich nicht den natürlichen Gegebenheiten folgen, sondern der Natur meist Gewalt antun. Sie erzeugen einen Druck, indem sie permanent gegen die Natur ankämpfen. Das kostet Kraft und erfordert weitere Energieträger, um deren Kontrolle es militärische Konflikte gibt. Darüber hinaus treiben uns die erzeugten Schadstoffe in die ökologische Katastrophe. Die Naturbeherrschung hat als Mittel zur Erhaltung unserer Lebensgrundlagen völlig versagt, klagt Reich, und der technische Fortschritt hat sich als lebenszerstörend erwiesen.

 

Ebenso verfährt der Mensch mit seiner inneren Natur: mit Druck und Gewalt. Naturbeherrschung und Selbstbeherrschung sind zwei Aspekte des gleichen Prinzips, das die fließende Bewegung aller Abläufe zerstört. Allerdings betrachtet Reich die destruktiven Impulse der Menschen nicht als angeboren, sondern als Folge des Zusammenpralls von lebendiger Energie des Einzelnen mit den starren Strukturen der Gesellschaft. Die innere Energiequelle, der biologische Kern der Menschen, ist seiner Meinung nach voller Liebes- und Kontaktfähigkeit.

 

Doch ist das Lebendige über Jahrtausende kultureller Entwicklung so tief verschüttet, dass dieser Schatz nur ganz behutsam wieder ans Licht gehoben werden kann. Das gelingt durch Auflockerung des Körperpanzers und Freisetzung festgehaltener Emotionen, wie Reich in seiner psychologischen Praxis erfahren hat. Wenn es ihm gelang, die chronischen Blockierungen eines Patienten aufzulösen, erfassten spontane Erregungswellen den ganzen Körper, die mit tief empfundenen Emotionen einhergingen. Der Mensch folgte dann eigenen inneren Impulsen, wurde eins mit sich selbst und strahlte eine tiefe Befriedigung, Glück und Erfüllung aus.

 

Diese spontane, natürliche Fähigkeit sieht er in unserer Kultur weitgehend verschüttet, und die natürlich fließende Bewegung durch chronische Blockierungen mehrfach zersplittert. Die einzelnen Fragmente teilt Reich nach ihren Symptomen ein: Starrer Blick, zusammengepresste Lippen, enge Kehle, militärische Stimme, eingezogener Brustkorb, flache Atmung, an den Körper gepresste Arme, angespannte Zwerchfellmuskulatur, angespanntes Becken, stramme Haltung und durchgedrückte Beine. Jedes dieser Panzersegmente erzählt seine eigene Leidensgeschichte von Konflikten kindlicher Impulse mit den starren, lieblosen Bedingungen der Umwelt.

 

Gefühle, die in der Kindheit zurückgehalten werden mussten und seither blockiert sind, können in der Therapie wieder entdeckt, und die Blockierung gelöst werden. Zum Zurückhalten lebendiger Impulse muss dagegen ständig Energie aufgewendet werden, auch im Erwachsenenalter. Solange die Kräfte auf beiden Seiten gleich stark sind, herrscht scheinbar Ruhe. Doch muss der Herrschaftsapparat zur Aufrechterhaltung dieses Zustandes bei den Unterdrückten gewaltige polizeiliche und militärische Kräfte bereit halten, um eventuell aufflackernde Befreiungsbewegungen niederzuschlagen.

 

Auch wenn der äußere Druck längst nicht mehr existiert, kann sich der Mensch für einmal verletzte Gefühle nicht mehr öffnen. Während frei fließende Energie mit Lust einhergeht, wird aufgestaute Energie als neurotische Angst erlebt. Die Energie, die beiden zugrunde liegt, ist quantitativ gleich, aber bei freier Strömung äußert sie sich als Lust, bei Stauung als Angst. Neurotische Ängste verschwinden, wenn es gelingt, die Blockierungen zu lösen und die Energie wieder frei strömen zu lassen, sagt Reich. Andernfalls kann der Stauungsdruck so stark werden, dass er nach einem Ersatzventil drängt, um sich zu entladen, z.B. in Form blindwütiger Aggression.

 

Wenn solche aggressiven Impulse zusammenprallen mit autoritärer Erziehung, äußerem Druck und Strafe, müssen sie vom Kind verdrängt werden. Die dadurch entstehende Wut und der Hass müssen ebenfalls verdrängt werden. So zieht eine einmal erfolgte Verdrängung eine ganze Kette weiterer Verdrängungen nach sich. Sie wird zum Charakterpanzer, in dem der erwachsene Mensch gefangen ist und nicht mehr heraus kann, selbst wenn eine liebevolle Situation dies gestatten würde. Ein derart gepanzerter Mensch kann weder seine eigenen Gefühle ausdrücken noch Gefühle von anderen an sich heranlassen oder überhaupt erkennen.

 

Für Reich ist natürliche Sexualität eine Grundvoraussetzung bioenergetischer Gesundheit. In einer Gesellschaft, in der sie weitgehend unterdrückt und verdrängt wird, erlangt sie eine zentrale Bedeutung. Erst aus ihrer Verdrängung heraus entstehen so viele Probleme, dass sie zum alles beherrschenden Komplex im Denken und Fühlen der Menschen wird. In einer die Sexualität bejahenden Gesellschaft ist sie dagegen eine natürliche Selbstverständlichkeit, die mit Freude gelebt wird.

 

Eine sexualfeindliche Gesellschaft tut alles, um von den Ursachen des Schadens abzulenken und verbaut damit den Weg zur grundlegenden Heilung. Die heutigen Sexwellen, die von Medien und Werbung ausgehen, erzeugen nur neue Formen von Leistungsdruck, meint Reich. Die Ausbreitung von Pornographie sieht er als Ausdruck dafür, dass viele Menschen mit Gewalt versuchen, an Gefühle heranzukommen, deren natürliches Erleben sie verloren haben. Das weit verbreitete sexuelle Elend sei nicht nur ein individuelles, sondern vor allem ein gesellschaftliches Problem.

 

Noch bevor es zum Holocaust, den Konzentrationslagern und zum Zweiten Weltkrieg kam, untersuchte Reich den Zusammenhang von autoritärer Erziehung, Sexualunterdrückung und autoritätsängstlichen Charakterstrukturen, die ein zwanghaftes emotionales Bedürfnis nach starren gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen haben. Er sah klar, dass die emotionale Deformierung von Menschenmassen unvermeidlich zur geballten Aufstauung von Energien führen musste, die schließlich nach massenhafter explosiver Entladung drängt.

 

Faschismus in diesem Sinn ist kein spezifisch deutsches Phänomen. Er kann sich überall dort wiederholen, wo das Lebendige brutal geschunden und die Sexualität streng unterdrückt wird. Mit Entsetzen und Fassungslosigkeit steht die Welt immer wieder vor neuen Eruptionen von Gewalt. Doch kaum jemals wird der Zusammenhang zwischen Gewalt und unterdrückter Sexualität thematisiert.

 

Mit der emotionalen Blockierung und Panzerung, die sich in den letzten 6.000 Jahren ausbreitete, hat der Mensch seine intuitiven Fähigkeiten weitgehend verloren. Sein bioenergetisches System befindet sich nicht mehr in Resonanz mit dem Organismus Erde und dem Kosmos. Der gepanzerte Mensch empfängt nicht mehr die Inspiration, den ungebrochenem Strom von Lebensenergie und Geist als Voraussetzung für seine harmonische Einbettung in das Ganze. Das Gespür für den Gesamtorganismus Erde und für die eigene Teilfunktion ist ihm abhanden gekommen.

 

Die Blockierungen der Lebensenergie können jedoch aufgelöst werden durch das Freisetzen verschütteter Kreativität und Wiederbeleben der Sinne. Selbsterfahrung in Form von Musizieren, Tanzen, Malen oder Theaterspielen hält Reich für geeignete Mittel, um die menschliche Resonanzfähigkeit mit der lebendigen Natur wieder zu erwecken. Mit Intuition und Inspiration kann ein Fühlen, Denken und Handeln entwickelt werden, das im Einklang steht mit der Natur, dem Organismus Erde und dem Universum. Der Kettenreaktion der Gewalt kann so eine Kettenreaktion der Liebe entgegengesetzt werden (Reich).

 

Angst und Gewalt

 

Der Philosoph Günther Mensching studierte bei Adorno und Horkheimer an der „Frankfurter Schule“ und bemüht sich jetzt um eine Aktualisierung der Kritischen Theorie. Für ihn ist Angst eine manipulierbare Befindlichkeit. Autoritäre Regime brauchen diese Charakterstruktur, damit die Leute der Herrschaft mit Begeisterung folgen, obwohl sie ihnen blinden Gehorsam und totale Anpassung abverlangt. Die größten Führer werden zugleich gefürchtet und geliebt. So wird aus einem treu sorgenden Familienvater vorübergehend ein Massenmörder, und nach dem Krieg wieder ein geachteter Familienvater.

 

Auf der Suche nach den Ursprüngen dieser Mechanismen untersuchte Mensching die von Freud postulierten inneren Instanzen Ich, Es und Über-Ich. Er erläutert: Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus, sondern vermittelt nur zwischen dem strengen Gewissen (Über-Ich) und den Trieben (Es), um den Alltag zu beherrschen. Während das sich ständig einmischt, indem es das Lustprinzip verfolgt, pocht das Über-Ich auf die verinnerlichten Normen. Das Ich nimmt nur die Realitätsprüfung vor. Auf dieser Basis ist die Manipulierbarkeit des psychischen Systems leicht zu verstehen.

 

Gewalt entsteht in der Kindheit durch rigorose Erziehung und Ideale, welche die Macht verherrlichen. Für das Kind bedeutet das eine totale Triebunterdrückung. Wenn es keine andere Möglichkeit hat, als aus der väterlichen Autorität Lust zu gewinnen, ist die Gewalt verinnerlicht. Dann besteht keine Furcht mehr vor äußeren Strafen, sondern nur noch vor dem eigenen Gewissen. Gehorsam wird verklärt und Gefühllosigkeit als ideales Verhalten hingestellt. Aus dem verbotenen Hass gegen den Vater wird eine masochistische Liebe oder ein Sadismus, der sich sein Ventil beim „Fremden“ sucht.

 

In der Antike hatte man Angst vor der Rache der Götter. Das Christentum entdeckte das Gewissen als Instrument zur Beherrschung der Massen. Durch die göttlichen Gebote wurde eine moralische Macht verinnerlicht, die bei Zuwiderhandlung mit seelischer Vernichtung drohte. Dafür war man Mitglied in einer Gemeinschaft der Starken und durfte alle Schwachen verachten. Die Autorität des Vaters blieb unangefochten, unter der Herrschaft des Adels ebenso wie im aufkommenden Proletariat.

 

Erst die Aufklärung propagierte das autonome Individuum. Kant setzte auf die Vernunft, die Französische Revolution auf die Freiheit des (männlichen) Bürgers. Hitler konstruierte neue Angstgegner: Juden und Bolschewisten. Seine Bünde und Corps besaßen einen hohen Konformitätsdruck und dienten letztlich der Abwehr von Angst. Der Handel brachte neue Abhängigkeiten: Die Autorität lag nun in den Gesetzen, und die Angst bezog sich auf das Unberechenbare. Das Schicksal des Einzelnen wird gelenkt durch anonyme Machttendenzen, die er nicht beeinflussen kann.

 

Heute bezieht sich die Angst auf Finanzkrisen, Krieg oder Terrorismus. Weitere Ängste werden künstlich erzeugt. Dazu bedarf es allerdings einer gewissen Disposition im Individuum, denn nicht jeder lässt sich ohne weiteres Angst einjagen. Die Eingeschüchterten jedoch zeigen immer ein stereotypes Verhalten: Ihnen fehlt jegliche Spontaneität und Initiative. Sie sind voller Vorurteile gegenüber Fremden und schnell bereit, sich neuen Autoritäten zu unterwerfen (Mensching).

 

Patriarchat und Unterdrückung

 

Der Berliner Volkswirt und Gesellschaftskritiker Bernd Senf befasste sich mit der „Wiederentdeckung des Lebendigen“ nach Wilhelm Reich und stieß dabei auf „lebensenergetische Methoden der Heilung von Menschen“, die „auf verblüffende Art und Weise uraltem und in unserer Kultur lange Zeit verschüttetem Wissen aus nicht-patriarchalen Lebensweisen“ gleichen. Diese Weisheiten haben teilweise im Untergrund patriarchaler Kulturen überdauert, zum Teil wurden sie in ethnologischer Spurensuche oder durch Inspiration wieder entdeckt und wissenschaftlich erforscht.

 

Senf fand heraus, dass das Wissen um die „Lebensenergie“ bis vor einigen tausend Jahren über den ganzen Erdball verbreitet war, und dass die Menschen damals in friedlichen und liebevollen Gemeinschaften lebten - liebevoll zwischen den Geschlechtern, den Generationen und zur übrigen Natur. Beim Rückblick auf die Menschheitsgeschichte zeige sich ihm allerdings ein düsteres Bild voller Gewalt, Krieg, Ausbeutung, Herrschaft, Mord und Totschlag. Den Grund für diese Diskrepanz sieht Senf darin, dass sich die Geschichtsschreibung nur auf die letzten 6.000 Jahre bezieht, zu deren Beginn die Gewalt in die menschliche Gesellschaft eingebrochen ist.

 

Aus der Zeit vorher, der sogenannten Vorgeschichte, gibt es keine schriftlichen Überlieferungen. Da das Auftreten von Menschen auf zwei Millionen Jahre v.u.Z. angesetzt wird, nimmt jedoch diese Vorgeschichte den allergrößten Teil der Menschheitsentwicklung ein, erklärt Senf. Eine Fülle von historischen, archäologischen, ethnologischen, klimatologischen und geografischen Forschungen belegt heute, in welchem geografischen Raum die Gewalt entstand, wie sie sich ausbreitete, und wann der Umschlag von einer friedlichen in eine gewaltsame menschliche Gesellschaft begann.

 

Danach fand der Ursprung der Gewalt vor ca. 6.000 Jahren in jenen Gebieten der Erde statt, die heute große Wüsten sind: Sahara, Arabische Wüste und Asiatische Wüste. Sie sind klimatologisch zusammengefasst zu einem großen Wüstengürtel, kurz „Saharasia“ genannt. Um diese Zeit gab es verheerende Umweltkatastrophen, in deren Folge das bis dahin fruchtbare Land mit üppiger Vegetation und großem Tierbestand in relativ kurzer Zeit ausgedörrt wurde und sich in eine Wüste verwandelte.

 

Die archäologischen Funde aus der Zeit vor dem Umbruch geben keinerlei Hinweis auf irgendwelche Formen von Gewalt im Zusammenleben der Menschen: keine Kriegswaffen, keine Spuren von Gewalteinwirkung bei den ausgegrabenen Skeletten, keine Höhlenmalereien mit Gewaltszenen. Statt dessen ästhetisch hoch entwickelte, mit fließenden Linien gestaltete Darstellungen friedlichen, liebevollen Zusammenlebens, wie die beliebte Darstellung eines Babys an der Mutterbrust. Auch die offensichtliche Verehrung des weiblichen Körpers sei typisch für diese Zeit (Senf).

 

Es gibt ebenso keine Hinweise auf eine Herrschaft der Männer über die Frauen oder die Kinder. Das Verhältnis der Geschlechter und Generationen scheine partnerschaftlich und liebevoll gewesen zu sein. Seit der Zeit um 4.000 v.u.Z. finden sich jedoch deutliche Zeichen eines Umkippens: Gewalt der Männer gegen Frauen, Gewalt der Erwachsenen gegen Kinder, Gewalt zwischen den Stämmen bzw. Völkern und gegenüber der Natur.

 

Zeitgleich mit der Entstehung der großen Wüsten zeigen die archäologischen Funde Darstellungen von kriegerischen Szenen, Spuren von Gewalteinwirkung in menschlichen Skeletten sowie Gräber, in denen getötete junge Frauen an der Seite eines gestorbenen alten Mannes begraben wurden. Die künstlerische Darstellung fließender Linien und spiraliger Formen wich eckigen, zersplitterten Formen, die Starrheit und Zerrissenheit ausdrücken. Die ausgegrabenen Bauwerke bestehen überwiegend aus Festungen und Burgen.

 

Das Ausdörren der fruchtbaren Gebiete muss mit dramatischen Hungersnöten einhergegangen sein, vermutet Senf. Erkenntnisse der Hungerforschung zeigen, dass Menschen, die von chronischem Hunger geplagt sind, nicht nur körperlich abmagern, sondern auch emotional in einen Zustand bioenergetischen Mangels geraten. Die Symptome gleichen dem Zustand des sogenannten „emotionalen Hungers“. Dieser wurzelt in einem Mangel an liebevoller Zuwendung, körperlichem Kontakt und Lustempfinden in der frühen Kindheit. Menschen, die in eine solche Situation geraten, bleiben auch später in ihren starren Strukturen gefangen.

 

In den durch Hungersnöte bedingten emotionalen Panzerungen sieht Senf die Initialzündung für eine anschließende Kettenreaktion von Gewalt mit all ihren destruktiven Folgen. Die Menschen wurden von ihrer inneren Energiequelle getrennt, der Wurzel alles Lebendigen. Ihre Lebensenergie wurde verschüttet und unter starren Strukturen begraben. So verloren sie das Gefühl liebevoller Verbundenheit zu allem Lebendigen, zur Natur und zum Kosmos als einem ganzheitlichen, lebendigen Organismus.

 

Den Mechanismus der Körperpanzerung erklärt Senf in Anlehnung an Wilhelm Reich: Menschen, die an einem chronischen Mangel ihres bioenergetischen Systems leiden, reagieren auf spontane Äußerungen des Lebendigen mit Angst und Abwehr. Durch die emotionale Ausstrahlung anderer Organismen wird ihr eigenes Energiesystem in eine Erregung versetzt, die nicht fließen kann und sich staut, bis zu einem Punkt, an dem sich die angewachsene Spannung explosionsartig in Gewalt entlädt.

 

Diese Gewalt richtet sich vor allem gegen die Auslöser von Angst und Erstarrung: gegen das Spontane, Lebendige, Liebevolle, Fließende in anderen Menschen und in der Natur. So tendiert der gepanzerte Mensch dahin, alles Lebendige in sich und um sich herum niederzuringen, zu zerstören oder ihm auszuweichen. Das versucht er anschließend rational zu begründen, indem er sich eine Fülle von Ritualen, Institutionen, Gesetzen, Ideologien, Glaubenssystemen und Religionen schafft, welche die Zerstörung des Lebendigen rechtfertigen. Daran glaubt er mit fester Überzeugung und verteidigt sie gegenüber Andersgläubigen mit Gewalt.

 

Auf diese Weise stellt sich die Geschichte als eine unendliche Kette von Gewalt dar, zunächst gegen friedliche und liebevolle Stämme. Sie fielen entweder der Gewalt zum Opfer, oder sie panzerten und verhärteten sich ihrerseits und wurden schließlich selbst gewalttätig. Später herrschte Gewalt zwischen ganzen Völkern, die sich mit Verbissenheit und Fanatismus den gewaltsamen Ideologien oder Religionen verschrieben hatten und dafür gegen die anderen zu Felde zogen.

 

Nach Senf stützt sich das Patriarchat hauptsächlich auf die Vererbung materiellen Reichtums sowie des Namens entlang der männlichen Linie, vom Vater auf die Söhne. Um sicherzugehen, dass es sich um die eigenen Kinder handelt, müssen sexuelle Kontakte der eigenen Frau mit anderen Männern unterbunden werden, unter Androhung schwerster Strafe für den Fall der Tabuverletzung. Solche Einschränkungen der sexuellen Freiheit wären in einer matrilinearen Erbfolge nicht erforderlich, weil die Mutter mit Sicherheit ihre leiblichen Kinder kennt.

 

Darin sieht Senf einen wesentlichen Grund für die Verquickung von Patriarchat und Sexualeinschränkung. Die sexuelle Unterdrückung wurde auch auf die Kinder ausgedehnt. Unter dem Druck kindlicher Sexualverdrängung funktionieren die Menschen, beherrscht von unbewussten Ängsten und Schuldgefühlen, als wären sie ihre eigene Sittenpolizei. An die Stelle offener Gewalt trat immer mehr eine Form struktureller Gewalt: die verinnerlichte Gewalt einer starr gewordenen Charakterstruktur.

 

Die durch Hungersnöte gequälten Menschen legten sich einen emotionalen Körperpanzer zu. Sie begannen, ihre Babys und Kinder zu vernachlässigen und zunehmend brutale Erziehungsmethoden und grausame Rituale anzuwenden. Auf der Flucht wurde der ganze Körper der Babys fest umwickelt, so dass sie sich nicht bewegen und „pflegeleicht“ wie ein Gepäckstück transportiert werden konnten. Ihre Schädel wurden deformiert, und die Genitalien durch Beschneidung verstümmelt.

 

Die gewaltsamen Rituale und Erziehungspraktiken stehen im deutlichen Zusammenhang mit der Ausbreitung des Patriarchats. Beide verbreiteten sich durch die Fluchtbewegungen und Völkerwanderungen von „Saharasia“ über den ganzen Erdball. Sogenannte patristische Kulturen des arabischen und des zentralasiatischen Kerns gab es seit 4.500 bis 3.500 v.u.Z. mit unterschiedlichen Graden an „Patrismus“. Auf der Suche nach neuem Lebensraum unterjochten sie andere Stämme, brachten sie um oder trieben sie in die Gegengewalt. So konnten friedliche Lebensweisen nicht überleben.

 

Weitere Gewaltwellen gingen durch den Kapitalismus und Kolonialismus von Europa aus. Im Zuge der Kolonialisierung wurden weitere Kulturen zerstört, die noch ein spirituelles Verhältnis zur Natur empfanden und die Erde als lebendigen Organismus ansahen, als Mutter Erde, zu der sie ein liebevolles Verhältnis pflegten. Jeder Raubbau an Ressourcen sei ihnen zutiefst fremd gewesen. Dorfgemeinschaften, die den Boden gemeinsam nutzten und sich selbst versorgten, wurden nun aus einem solidarischen Miteinander in die Konkurrenz gegeneinander getrieben.

 

Ethnische Zusammenhänge wurden durch willkürlich festgelegte Staatsgrenzen zerschnitten, und feindliche Stämme zu einer künstlichen Nationalität zusammengeschweißt. Damit wurden Konfliktpotentiale geschaffen, die sich immer wieder explosiv entluden. In Amerika wurden die eingeborenen Indianer umgebracht oder in Reservate abgedrängt. Der amerikanische Kapitalismus fußt auf Völkermord und Sklaverei (Senf).

 

Der Kolonialismus wurde durch das Militär und die Kirche mit ihren Heeren von Missionaren durchgesetzt. Deren Gewalt war schwerer zu durchschauen, weil sie im Gewand der Nächstenliebe auftrat, aber unglaubliche Zerstörungsprozesse anrichtete. Die noch existierenden Naturreligionen mit ihrer spirituellen Einbettung des Menschen in die Natur und das kosmische Geschehen wurden als heidnisch verketzert und zum patriarchalen Christentum sowie zur Übernahme christlicher Moralvorstellungen bekehrt.

 

Wo noch ein partnerschaftliches Miteinander der Geschlechter herrschte, ein natürliches Verhältnis zur Sexualität und ein ökologisches Gleichgewicht zur Natur vorhanden war, brachte die Missionierung mit ihrer Sexualfeindlichkeit ebenfalls Gewalt und Herrschaft hervor. Nur wenige Flecken der Erde blieben von der Ausbreitung der Gewaltwellen verschont bis ins 20. Jahrhundert, weil sie geografisch unzugänglich lagen, z.B. im Urwald, im Hochland oder auf einer Insel (Senf).

 

 

Birgit Sonnek

 

März 2012

 

 

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